Von Tim Geideck- von Schwarzwälder-Bote16.09.2015
Rottenburg-Ergenzingen. Edris Joya rückt seine rote DRK-Helfer-Jacke zurecht, nimmt den mintgrünen Mundschutz ab und lächelt. Um ihn herum hat sich in der Ergenzinger Notunterkunft ein Dutzend Afghanen versammelt, die eilig die Feldbetten zur Seite schieben und voller Konzentration den Worten lauschen. Joya ist selbst Afghane und beantwortet seinen Landsleuten auf Persisch, Darisch und Paschtu ihre dringendsten Fragen: Wo in Deutschland sind sie jetzt überhaupt gelandet, wo kann man duschen, und welche bürokratischen Schritte müssen als nächstes unternommen werden?
Nicht nur durch seine Sprachkompetenz ist Joya, der quasi seit der ersten Minute in Ergenzingen dabei ist, perfekt geeignet für den Übersetzer-Job in der aus dem Boden gestampfte Flüchtlingsunterkunft. Denn: Der Afghane kam vor fünf Jahren selbst als Flüchtling nach Deutschland. “Ich habe das alles selber erlebt”, sagt Joya.
In seinem Heimatland drehte er als Jugendlicher zusammen mit seinem Bruder eine Film-Dokumentation – ausgerechnet über die christliche Kultur in Afghanistan. Joyas Bruder kam deshalb ins Gefängnis. “Dort sitzt er immer noch”, sagt Edris mit bedrückter Miene. Er selbst flüchtete aus Afghanistan und landete schließlich in Deutschland.
Was der nun in Tübingen lebende Joya bei seiner Ankunft erlebte, frustriert ihn noch heute. Einen halben Tag habe er allein bei der Polizei verbringen müssen, damit seine Identität festgestellt wird. “Die haben mir nicht geglaubt, dass ich Afghane bin. Die dachten, ich komme aus Russland oder so”, ärgert sich Joya. Zudem sei ihm nach vier Tagen ohne Nahrung keine Mahlzeit angeboten worden. In Ergenzingen will der Afghane daher vor allem eines: Den Flüchtlingen einen besseren Empfang bereiten als ihm damals bereitet wurde. “Ich möchte nicht, dass die anderen Flüchtlinge so etwas erleben müssen”, sagt Joya.
Gut erinnern kann er sich noch an das, was er vor fünf Jahren bei seiner Ankunft in Deutschland zuerst gesehen hat: das rot-weiße Wappen vom Roten Kreuz. Joya entschied sich, die Fronten zu wechseln und im Auftrag des DRK selbst zum Helfer zu werden.Der afghaner, der derzeit in Tübingen eine Radio Sendung unter die Namen “Endlose Reise” bei freie Radio Wüste-Welle hat und fotografiert sehr, musste nicht lange überlegen, ob er seine Freizeit opfert, um in Ergenzingen zu helfen: “Was soll ich denn sonst machen? Zu Hause auf dem Sofa sitzen und fernsehen?” Mit dabei hat Joya auch seine Freundin Elena Smith, die durch ihn seine Heimatsprachen gelernt hat. Beide sind in Ergenzingen die einzigen, die mit den afghanischen Flüchtlingen kommunizieren können.
Den Eindruck, den Joya bislang von der Unterkunft in der ehemaligen Firma Dräxlmaier gewonnen hat, ist gemischt. Nicht nachvollziehen kann der Afghane die wenig einladend wirkende Art der Unterbringung: “Man hat Ungarn kritisiert, weil sie die Flüchtlinge in Fabriken unterbringen. Ich bin sprachlos, dass wir hier jetzt genau dasselbe machen.” Umso beeindruckter ist Joya vom Engagement der Helfer. “Hier gibt es 24 Stunden lang jemanden, an den man sich wenden kann”, betont er. In der Nacht etwa hätte eine Frau geweint – und innerhalb kürzester Zeit wären drei Ärzte um sie herum gestanden. Das wäre bei Joyas Ankunft vor fünf Jahren noch ganz anders gewesen. Vor allem aber begeistert ihn das freundliche Miteinander: “Ich habe ein sehr gutes Gefühl, weil ich hier nur gute Menschen sehe. Ich war hier schon einige Male den Tränen sehr nahe.”
Aus eigener Erfahrung weiß Joya: Was Flüchtlinge manchmal noch dringender brauchen als eine Mahlzeit, ein Bett oder eine Decke ist ein Lächeln ihrer Gastgeber. “Manche Deutsche haben vielleicht Angst vor den Flüchtlingen, weil sie sie nicht kennen. Aber für die Flüchtlinge ist es die gleiche Situation. Sie kennen die Deutschen nicht”, vergleicht Joya und erzählt von einer Begegnung, die er mit einem Flüchtling in Ergenzingen hatte: “Er hat gesagt, dass er gehört hätte, dass die Deutschen ein großes Herz haben. Hier habe er gesehen, dass das stimmt. Dafür reicht ein einfaches Lächeln.” Aus eigener Erfahrung weiß Joya: “Wichtig ist, dass man sich begegnet und kennenlernt. Mit Kommunikation kann man alles lösen. Auch Kriege.”
Edris Joya (Zweiter von links) kann das Schicksal der Flüchtlinge gut nachvollziehen. Zusammen mit seiner Freundin Elena Smith (Mitte) hilft er schon seit Stunden in Ergenzingen. Fotos: Hopp (Foto: Schwarzwälder-Bote)
Die Menschentraube, die sich um den Afghanen herum gebildet hat, wird derweil immer größer. Viele seiner Landsleute wollen wissen: Wie hoch stehen die Chancen, dass ihr Asylantrag angenommen wird. “50 zu 50”, vermutet Joya und wischt sich mit den Plastikhandschuhen die Schweißperlen von der Stirn. Die Ringe unter seinen Augen sind deutlich zu erkennen, er ist schon seit zig Stunden auf den Beinen. Wie lange wird er noch in Ergenzingen bleiben? Joya lächelt: “So lange ich Energie habe.”